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Ein Waiblinger Halunkenleben

von Wolfgang Wiedenhöfer

Unter der Findstelle mit dem sperrigen Titel „Consilium mit zwei Anbringen betreffend die beiden jungen Becher zu Waiblingen„ findet sich im Stuttgarter Hauptstaatsarchiv ein in feiner Kanzleischrift beschriebenes, fleckiges und vergilbtes Aktenbündel aus dem Jahr 1717, welches sich bei näherer Untersuchung als Kriminalakte zu einer Gerichtsverhandlung aus dem Jahr 1714 herausstellte. Angeklagt sind ein Waiblinger Halunke namens Johannes Becher und sein Bruder Reinhard, die Waiblingen und das Umland vor 300 Jahren heimsuchten. Eine Vielzahl von Gesetzesverstößen, größtenteils Diebstähle und Betrug, werden insbesondere Johannes Becher zur Last gelegt - allesamt detailliert in den Verhörniederschriften festgehalten und teilweise nach heutiger Beurteilung recht skurril anmutend. Für diese Straftaten sind beide letztendlich ins Zuchthaus gewandert.

Die Kriminalakte Becher aus dem Jahr 1714

„Unsren freundlichen Gruß zufor, edle, wohlehrenwehrte, ehrsame, fürsichtige und wohlweise, insonders vielgeehrt Herrn und geliebte Freunde…“ mit dieser Grußformel eröffnet der Gerichtsschreiber die Akte, des „jung Johannes Becherern … Bürgern … zu Waiblingen“ . Das Herzogliche Urteil, welches gefällt wurde nachdem die „… zimlich weitläufige Acta mit gebührendem Fleiß durchgelesen, kritisch erwogen…“ worden war, lautete auf acht Monate Zuchthaus, si viel wird gleich zu Anfang der Akte vorweggenommen. Doch was hatte sich beidden Waiblinger Tunichtgute zu Schulden kommen lassen?

Abbildung: Ausschnitt aus der Gerichtsakte von 1714; HStA A 209 Bü 814 (Vorlage und Aufnahme: Hauptstaatsarchiv Stuttgart)

Bevor der Kern der Sache, die Straftaten, in der Akte auftauchen, wird durch einen Rückblick in die Jugend des Beklagten ein vorsichtiger Versuch der Erklärung seiner verbrecherische Ader geliefert, nämlich dass er „…von Jugend auf, ein bößer Dieb geweßen,…nie kein guthes Prädicat gehabt, indem er geist- und welt-licher Obrigkeit einen schlechten Respect und Gehorsam erwiesen…“ , auch sei er „nächtlicher Weil vielfältig auf der Gassen herum vagirt…“ .

Leider ist aus der Akte das genaue Geburtsjahr des Johann Becher nicht ersichtlich, allerdings wird ein Beispiel einer 16 Jahre zurückliegenden Verfehlung aufgeführt, als er, offenbar noch in jugendlichem Alter, dem Johann Jacob Schwarz „…im Roßberg…“ , junge Rebpflanzen ausgegraben und in seines eigenen Vaters Weinberg versetz haben soll, was ihm allerdings damals nicht nachgewiesen werden konnte. Vermutlich bezieht sich die Ortsbezeichnung „Roßberg“ auf das heute noch diesen Namen tragenden Waiblinger Gewann, welches damals noch größtenteils als Weinberg genutzt wurde.

Wegen eines anderen Diebstahls ist er schon als junger Bub in Haft gesteckt worden, spektakulär die diesbezüglich beschriebene Flucht aus dem Zuchthaus: „...er hat sich aber gantz ausgezogen, und ist durch das Gitter hinauß geschlupft, damit der Obrigkeit nur getrotzet“ .

Gleich und Gleich gesellt sich gern, so beginnt die eigentliche kriminelle Karriere auch mit der Eheschließung, denn obwohl seine Braut, deren Mädchenname unerwähnt ist, so viel Aussteuer in die Ehe einbringt „…daß er und sie sich wohl miteinander hätten ernehren können“ , scheinen beide schnell vom rechten Weg abzukommen, denn obgleich „…sie es recht angefangen, so hat die Sache doch einen gantz anderen und widrigen Ausgang genommen, denn weil … das Weib nicht gescheid und eine Faulentzerin, dabey eine Schleferin die bis an den Mittag im Bette gelegen, … und also eine schlechte Haushälterin gewesen, er aber gleichfalls nichts nutze gewesen, und es bald ebenso gemacht, beide miteinander hinaus im Lande herum und hin und her auf die Jahrmärkte gezogen, in die Wirthshäuser gesessen, gezehret, und das Geld verthan, ein Haus gekauft und mit Verlust wider verkauft, ist das Geld bald hinaus gejagt worden.“

Was wird dem „peinlich Beklagten“, wie er in der Akte bezeichnet wird, im Detail vorgeworfen? Auf den nun folgenden Seiten der Akte werden nicht weniger als 20 Straftaten aufgezählt, die er teils gestanden, teils auf seine Frau geschoben, teils ganz geleugnet hat. Darunter sind spektakuläre Diebstähle, Hehlerei, eher lausbübische Gaunereien und handfester Betrug. Hier einige Kostproben:

Erster Geschädigter, der namentlich auftaucht, ist der Barbier (= Friseur) Gustaf Faltz aus Mühlhausen, den Becher zuerst um den ihm zustehenden Lohn prellt um dann auch noch sein wertvolles, silber- und elfenbeinverziertes Handwerkszeug, eine Schere und mehrere Messer samt Futteral, Streifriemen und Kamm, diebischer Weise entwendet und alles anschließend zu Besigheim verkauft.

Einer Näherin Namens Metzger in Oeffingen stiehlt er ein Paar Kinderstrümpflein und verkauft diese dem Seybold zu Fellbach. Dem Waiblinger Kerzengießer Fuchs räumt er die Werkstatt aus, in Obertürkheim entwendet er einen eisernen Schlegel und verkauft diesen in Oeffingen an einen Gießer namens Dannner, dem Waiblinger Hans Strinder stiehlt er ein 35 Ellen großes (Anm.d.V.: 1 württembergische Elle entsprach 61,42 cm ) Flachstuch aus dem Bleichbottich und verkauft es an den Stuttgarter Kaufmann Rungel. In einem Wirtshaus zu Ebersbach stiehlt er über Nacht einen Zimmernachbarn Geld aus dem Hosensack, auf der Flucht wird er aber vom Wirt bei Esslingen gestellt und muss sein Diebesgut wieder herausgeben.

Auch vor der eigenen Familie machen seine Diebereien nicht Halt, seinem Vater stiehlt er einen Messinghahnen und verkauft diesen an den Bittenfelder Jacob Pertershans. Dem Waiblinger Lammwirt stiehlt er die Wagenkette, Georg Schiller und Hans Wagner Werkzeug. Einem Waiblinger Landwirt entwendet er ein ganzes Rinderfell, das er an einen Stuttgarter Gerber weiterverkauft, in Fellbach stiehlt er den Hahn aus einem Hühnerhaus.

Johannes Bruder Reinhard kommt ins Spiel, als die beiden beim Handel mit Holz mehrmals Geld unterschlagen und dies bei der Oeffinger Roßwirtin (die selbst unter Eid vernommen wird, aber nichts vom unrechten Ursprung des Gelds gewusst haben will) und deren Tochter wechseln lassen und dort auch gleich beim Glücksspiel verprassen, heute würde man wohl von „Geldwäsche“ sprechen. Einer der Geschädigten bei diesen Holzhandelsgeschäften ist laut Akte der damalige Waiblinger Bürgermeister Becherer.

Ein Fass mit teurem Wein aus Georg Weisers Keller präpariert Johannes nachträglich durch eine mit billigem Wasser gefüllte Rindsblase und verkauft es mit betrügerischem Profit weiter. Ein Bäcker aus Oßweil Namens Stahl hatte dem Bürgermeisteramt zu Hohnacker Wein abgekauft und nach Stuttgart weiterverkauft. Vom Schulmeister ließen die Becher-Brüder daraufhin eiligst ein gefälschtes Schreiben aufsetzen, in dem Bäcker Stahl vom Bürgermeisteramt sein bezahltes Geld zurückforderte. Diesen Brief ließen sie durch einen im Weinberg zu Hofen angetroffenen Buben gegen ein Taschengeld zustellen und sich das Geld auszahlen.

Dem Ochsenwirt zu Fellbach stiehlt er ein Unter- und Oberbett samt Bettlaken in dem er mit einer von außen an das Kammerfenster angelegten Leiter einsteigt und versteckt das gestohlene Bettzeug in Waiblingen in seinem Gartenhaus. Dieser Diebstahl wird entdeck und Johann Becher wandert dafür 6 Monate ins Gefängnis.

Nach Befragung aller Beteiligten wird Johannes Becher gem. Aktennotiz vom 11. Juli 1714 zu einer Haftstrafe von 8 Monaten verurteilt, nicht ohne ihn bei der Urteilsverkündung eindringlich zu ermahnen, dass der Richter „…ihm diese Strafe jetzo zur Besserung seines Lebens dienen lasse, und von nun an ja ein christliches, gottsehrliches, tugendhaftes Leben anfangen, sich vor dem Stehlen hinkünftig hüten, und davon gäntzlich abstehen solle…“ , denn andernfalls drohe ihm bei erneuten Straftaten der Strang. Von Johannes Bruder Reinhard ist bei der Urteilsverkündung nicht die Rede, doch müssen beide zusammen ins Zuchthaus gewandert sein, denn die Geschichte ist mit der Verurteilung vor dem herzoglichen Gericht noch nicht vorbei.

Wahrscheinlich hätten sich die beiden Becher, angesichts der Entwicklung die ihr Fall im Jahr 1717 nimmt, gewünscht, die Strafe bis zum bitteren Ende im Zuchthaus abzusitzen. Doch die Obrigkeit hatte andere Pläne. Im Jahr 1717 wurde die Gerichtakte um einen Vermerk ergänzt “…das die Becherer, wider den Türken mittgeführt werden sollen, … ein Befehl an den vogt zu geben … die Inhaftierten auszuliefern.“

Der Dreißigjährige Krieg, der ganze Landstriche entvölkert und einen großen Teil der Infrastruktur in Süddeutschland zerstört hatte, lag gerade erst einige Jahrzehnte zurück. Noch immer war man mit dem Wiederaufbau der Städte und der Wiederherstellung der Landwirtschaft beschäftigt. Also taten sich die übers Land reisenden Werber schwer, ausreichend Freiwillige für den Militärdienst zu finden. Was lag näher, als die Gefängnisse zu leeren und die Häftlinge in Uniformen zu stecken. So erging es auch den Waiblingern Johann und Reinhold Becher. Ob man sie ungefragt zwangsrekrutierte oder mit dem Versprechen der Haftverkürzung köderte und sie freiwillig einzogen, ist aus der Aktenlage nicht ersichtlich.

Dieses Regiment, das später den Namen „Alt-Württemberg“ erhielt, wurde 1716/1717 im knapp 100.000 Mann umfassenden kaiserlichen Heer unter Prinz Eugen und dem späteren Herzog Carl-Alexander zu einem Feldzug gegen den türkischen Großwesir Chalil geschickt. Die Schlacht um Belgrad im August 1717 endete in einem glanzvollen Sieg der kaiserlichen Truppen, der im Volkslied „Prinz Eugen der edle Ritter“ besungen wurde. Die Gefahr einer osmanischen Expansion nach Westeuropa war nach mehreren Jahrhunderten kriegerischer Auseinandersetzungen endgültig abgewehrt. Somit haben mit den Johann und Reinhold Becher zumindest zwei Waiblinger Tunichtgute ihren Anteil daran getan, das Abendland zu retten und Weltgeschichte zu schreiben.

Download der kompletten Gerichtsakte von 1714; HStA A 209 Bü 814 (Vorlage und Aufnahme: Hauptstaatsarchiv Stuttgart)

Abb. Header: Stadtansicht um 1700, Quelle: Archiv der Stadt Waiblingen